Abstract: Peter Meshcherinov
Zur Rezeptionsgeschichte der Werke des deutschen Pietismus in Russland und zu ausgewählten Fragen ihrer Übersetzung ins Russische
Gegenwärtig gibt es keine Übersetzungen deutscher pietistischer Texte ins Russische. Während einzelne Schriften von Luther, Chemnitz und einigen anderen Reformatoren übersetzt wurden bzw. werden, hat sich bisher kaum jemand in Russland darum bemüht, zumindest Fragmente aus den Werken der führenden Vertreter des Pietismus Spener, Francke, Arnold, Bengel, Oetinger, von Zinzendorf und Tersteegen ins Russische zu übertragen. Die russische gebildete Gesellschaft des ausgehenden 18. bzw. angehenden 19. Jh. hat sie allerdings lediglich im Original gelesen (wovon u.a. C.P. van Andel in seinem Buch über Tersteegen (1973) schreibt). Viel stärker war das Interesse russischer Leser an deutscher protestantischer Mystik. Es wurden einige Werke von Jakob Böhme und sogar eine Arbeit von Valentin Weigel (die in Einklang mit dem heutigen Forschungsstand nicht authentisch ist) übersetzt. Eine Ausnahme bildet das „vorpietistische“ Werk von Johann Arndt „Vom wahren Christentum“. Seit 1735, als die erste russisch-kirchenslawische Übersetzung vom Mönch-priester Simon Todorskij erschien, und bis 1906 wurde es mehrmals übersetzt und herausgegeben. Im Zusammenhang mit diesen Übersetzungen lassen sich viele interessante Besonderheiten feststellen, die ich während meiner Arbeit an einer Neuauflage des Buches von Arndt bemerken konnte: (i) In sämtlichen Ausgaben vor der Oktoberrevolution 1917 macht sich die Tendenz zur „Orthodoxisierung“ bemerkbar: Alles, was Arnds lutherische Selbstidentifizierung betrifft, wurde nämlich ausgelassen; (ii) In der letzten russischen Übersetzung von 1906, mit der ich gearbeitet habe, wurde vieles weggelassen oder aber abgeschwächt, was das innere Leben in Christo angeht, und zwar insbesondere im dritten Buch. Dies zeugt von einer unterschiedlichen Empfindung des inneren Lebens in der Orthodoxie und im Frühprotestantismus. Am Beispiel von Arndt, der bekanntlich eher traditionell wirkt, ist dies nicht so stark bemerkbar (wenngleich auch hier der Übersetzer seines Erachtens entbehrliche Fragmente mit der Beschreibung des inneren mystischen Lebens weglässt); an den Werken radikaler Pietisten (Gottfried Arnold und Gerhard Tersteegen) ist dies aber besonders gut sichtbar. Dieser essentielle Unterschied liegt darin, dass Orthodoxie auf regelmäßiger Teilnahme der Gläubigen an Sakramenten sowie auf Kontakten mit dem Beichtvater und generell auf äußeren Praktiken des kirchlichen Lebens beruht, während die pietistische Erbauungsliteratur davon gar nicht redet und dem Menschen die Möglichkeit zuerkennt, auch getrennt von äußerer „Kirchlichkeit“ ein tiefes und vollwertiges geistiges Leben zu führen (was heutzutage auch bei uns äußerst aktuell wird). Interessant ist ferner die „Anpassung“ der Begrifflichkeit der deutschen Erbauungsliteratur an die russische Sprache. Auf „deutscher“ Seite ergeben sich die Schwierigkeiten bei der Übersetzung solcher Begriffe wie Gelassenheit, Abgeschiedenheit etc. In der geistigen Literatur dürfen sie nicht mit Lexemen in ihrer Wörterbuchbedeutung wiedergegeben werden. Um den Gedanken und die geistige Erfahrung des Autors adäquat widerspiegeln zu können, müssen Äquivalente gesucht werden, die manchmal recht schwerfällig sind. So ist z.B. Gelassenheit nicht etwa ʻruhiger, ungestörter Seelenzustandʼ, sondern vielmehr ʻvöllige Ergebenheit dem Gotteʼ; Abgeschiedenheit ist nicht ʻEinsamkeitʼ, sondern ʻEntfremdung von allem, was nicht Gott ist bzw. dem Gott gehörtʼ. Schwierigkeiten entstehen bei Wiedergabe des Verbs üben und des davon abgeleiteten Substantivs Übung. Als Äquivalente gelten hier russische Wörter mit der Bedeutung ʻtunʼ bzw. ʻdas Tunʼ, wobei im Russischen Tun und Werk gleichstämmige Nomina sind, was zu einer Kollision führt, da protestantische Autoren sämtliche Ausdrücke vermieden, die mit Werk verbunden sind (Weigel schrieb sogar, er spreche nicht von Werken, sondern vom Tun). Um nun den protestantischen Kontext nicht zu tangieren, muss jedes Mal ein passenderes Wort gefunden werden, welches leider nur selten das passende ist. Auf „russischer“ Seite ergeben sich die Schwierigkeiten daraus, dass der Übersetzungstext notgedrungen viele Wörter altkirchenslawischer Herkunft enthält. Altkirchenslawisch übernimmt in der russischen Sprache die Funktion des „hohen Stils“. Auf Deutsch klingt z.B. der Satz Der Engel sieht mit den hellen Augen völlig angemessen, während diese Phrase ins Russische lediglich unter Heranziehen altkirchenslawischer Lexik adäquat übersetzt werden kann, etwa: Ангел взирает светлыми / ясными очами ʻDer Engel beschaut uns mit klaren / hellen Augenʼ. Ангел смотрит светлыми глазами wäre nämlich ein unzulässiger Stilbruch. Eine weitere Schwierigkeit ist die von vornherein vorausgesetzte „erhöhte Keuschheit“ der russischen geistigen Sprache. Ich liebe Dich in Bezug auf Gott ist im Deutschen ein völlig normaler Ausdruck, wohingegen der formal äquivalente russische Satz Я люблю Тебя, Боже auf Russisch unerträglich falsch klingt. Der Übersetzer soll diese Besonderheiten in Rechnung stellen und das „Pathos“ entsprechend dämpfen. Dies betrifft sowohl Arndt als auch – erst recht – Zinzendorf und Tersteegen. Leider ist nun die Rezeptions- und insbesondere Übersetzungsgeschichte pietistischer (und vorpietistischer) Erbauungsliteratur in Russland sehr begrenzt. Daraus ergeben sich einerseits offenkundige Komplikationen: Es finden sich kaum „Stützen“ außer recht eigenartiger Übersetzungs-versuche der Werke von Arndt. Andererseits aber ist gerade diese Lage vorteilhaft, da die fehlende Traditionsbindung eine gewisse Freiheit bei der Wiedergabe der „inneren Erfahrung“ dieser herausragenden Autoren ins moderne Russisch gewährt.
Literatur
- Andel, Cornelius Pieter van (1973): Gerhard Tersteegen. Leinen: Neukirchener Verlag.
- Arndt, Johann (1930): Sechs Bücher vom wahren Christentum nebst dessen Paradies-Gärtlein. Stuttgart: Steinkopf.
- Meshcherinov, Peter/Arndt, Johann (2016): Ob istinnom christianstve. Übersetzung des Buchs von Johann Arndt Vom wahren Christentum, völlig überarbeitete, korrigierte und annotierte Ausgabe der Übersetzung von 1906. Moskau: Eksmo.
Biographische Notiz
Priester Peter (Valentin) Meshcherinov, Vorsteher des Klosterhofs St Daniel bei Moskau. Diplom-Musiker (abgeschlossenes Studium am Moskauer Konservatorium) und Theologe; Übersetzer theologischer Texte. Schwerpunkte: Johann Sebastian Bachs Werke und Übersetzung von Texten zu seinen Kantaten und Messen ins Russische; frühprotestantische und pietistische Mystik.
Anschrift:
Danilov monastyr´, Kanzlei, Danilovskij val 22, RU-113191 Moskau, Russland. Email: igpetr@yandex.ru.